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Was von deiner Grenze übrig ist

Der Roadtrip einer Grenzgängerin

Aus dem Dollart, der Meeresbucht bei Emden, gespeist mit Nordseewasser, tauche ich auf. Ich, die Grenze, mache mich auf den Weg um mein Land. Deutschland umreiße ich in Google Maps nur noch als eine gezackte schwarze Linie auf der Karte. Für neun Staaten war ich wichtig, wer mich überqueren wollte, musste sich ausweisen und kontrollieren lassen. Übrig geblieben sind quadratisch blaue Schilder mit Sternenkranz und der Hinweis, etwas langsamer zu fahren. Es muss mehr von mir zu finden sein - jenseits der schwarzen Linie. Die Schranken sind nicht mehr da, aber vielleicht sind sie noch in den Köpfen der Menschen.

Ich ziehe mich in südlicher Richtung entlang der Niederlande. Vor mir liegen 567 Kilometer, dann werde ich auf die belgische Grenze stoßen. Mein erster Stopp ist eine Shell-Tankstelle im niederländischen De Lutte. Sie liegt direkt an der A1; Bad Bentheim auf der deutschen Seite ist nur zwanzig Autominuten entfernt.

An den Zapf-säulen stehen fünf LKWs in einer Reihe. Im Verkaufsraum: Koffein-Türme auf Paletten bis fast an die Decke. Der Kaffee ist hier nur halb so teuer wie in Deutschland - das war schon so bevor sie die Schlagbäume öffneten. Damals wurde er kiloweise über die Grenzlinien geschmuggelt. Heute ist es ähnlich – nur legal. Die LKW-Fahrer kommen mit Kaffeepaketen im Arm aus der Tankstelle und fahren weiter, zurück zu mir. Ich folge ihnen, habe sie im Blick, während ich mich zwischen Enschede und Gronau hindurch winde.

Auf dem Weg gen Süden sehe ich das deutsche Bocholt links von mir und bewege mich auf ein blau-gelbes Ortsschild zu: „Dinxperwick“. Die Straße in den Ort hinein ist breit und führt durch ein Wohngebiet. Doch es ist nicht ein Ort, es sind zwei, meine schwarze Linie verläuft mitten auf der Straße: Rechts vor mir liegt Dinxperlo in den Niederlanden, links Suderwick in Deutschland. Der Zweite Weltkrieg ist schuld an der ungleichen Teilung: Dinxperlo hat 7000 Einwohner, Suderwick ist kleiner, nur 1800 Menschen leben hier. Von den Klinkerhäuschen mit gardinenlosen Fenstern und detailverliebten Vorgärten geht es direkt zu den deutsch-korrekten Häusern hinter glasklaren Scheiben. Die niederländische Metzgerei „Slagerij Eric van Schie“ sehe ich rechts von mir, die „Fleischerei Baumann“ ein paar Meter weiter auf der linken Straßenseite. Wer will, kann sich auf meine schwarze Linie stellen und mit jedem Bein in einem anderen Land stehen. So einfach ist das.

Dann - ein Schlagbaum. Geöffnet, aber nicht funktionstüchtig, ist er nur ein Symbol für den ehemaligen Grenzübergang Heelweg/Hellweg. Gegenüber, auf dem Dorfplatz von Suderwick, stehen Freek Diersen und Johannes Hoven. Der Niederländer mit dem grauen Locken und der hochgewachsene Deutsche arbeiten seit zehn Jahren in ihrem jeweiligen Heimatverein für das Zusammenwachsen beider Dörfer. Hinter ihnen fahren Autos über gemalte gelbe Kreuze von einem Land ins andere – ich bin nur noch eine Farbe auf der Straße. Dies bestätigt Johannes: „Hier leben Deutsche und Niederländer ohne Schranken miteinander, und das funktioniert.“

Die Polizei beider Länder sitzt in einem Revier, gemeinsam fahren Bus und Krankenwagen über die Grenze. Damit die Sprache gegenseitig erlernt wird, fördert man die Schulen finanziell. Ein Elektrocar bringt Bewohner von den Altersheimen beider Ortschaften zum Arzt und zum Einkaufen: 22 Freiwillige aus beiden Orten fahren das Auto, auch Freek, alle 14 Tage, montags von 9 bis 12 Uhr. „Was zusammen eingebracht wird, hat mehr Wert als jeder einzelne für sich“, sagt der Niederländer, „Jeder kann von dem Anderen profitieren.“

Meine schwarze Linie führt mich weiter auf dieser Straße, die links „Hellweg“ und rechts „Heelweg“ heißt, unter einer Glasbrücke hindurch. Der Schriftzug „Taverne“ und das Icon einer dampfenden Kaffeetasse kleben in der Mitte des Übergangs auf dem Glas. Dort begegnen sich bei Kaffee und Kuchen die Bewohner zweier Altersheime. Eines für jedes Land. Zusammen stehen sie stolz für das erste grenzüberschreitende Wohn- und Pflegehaus Europas.

Diese Brücke gab es vor der Grenzöffnung 1995 noch nicht, auch keinen Zaun, der sich durch das Dorf zog. Dafür standen menschliche Grenzpfähle auf der Straße. Die Niederländerin Ricky Strauch kann davon erzählen, weiß wie sie damals ihrer Freundin von Dinxperlo aus zuwinken konnte. Dann musste sie mit dem Fahrrad um das Dorf bis zum Grenzübergang fahren, um sie in Suderwick zu besuchen. Die 82-Jährige steht im Kostüm und mit wachen Augen hinter der Brille im „Grenslandmuseum“ von Dinxperlo. Ehrenamtlich ist ihr Dienst im Museum zur Grenzgeschichte. Auf dem Tisch eine „Frau im Spiegel“ mit William und Kate auf der Doppelseite, eine Tasse Tee und ein angebissenes Stück Kuchen. Hinter ihr stehen der deutsche und der niederländische Grenzsoldat, Puppen als Symbol der Vergangenheit. „Hey Rotmof, was tust Du denn hier?“ Noch immer bekommt Ricky Strauch eine Gänsehaut, wenn sie an diese Worte denkt. Keine zehn Jahre ist es her, da ist sie mit ihrem Mann, dem Deutschen, in Holland, als ein kleiner Junge sie so ansprach. Sie wundert sich damals, woher der Junge den abwertenden Ausdruck für deutsche Soldatenkinder kennt. „Das bringt ihm alles Opa bei“, ist die Entschuldigung der Mutter. Ja, sicher, auch ich weiß es noch: Die Deutschen haben euer Land besetzt, im Zweiten Weltkrieg. Die Nationalsozialisten ermorden eure Juden und verpflichten eure Jungs zur Zwangsarbeit. Und manchmal bleiben da auch Kinder von deutschen Soldaten zurück, in den Bäuchen eurer Frauen. „Bereinigt ist es nicht, das deutsch-niederländische Verhältnis“, meint Ricky, „Der Krieg kommt immer wieder hoch und ist in den Köpfen der Alten.“

Vor dem Museum, auf dem belebten Marktplatz in Dinxperlo, sehe ich Menschen in Straßencafés sitzen und Fahrräder aufgereiht am Dorfbrunnen lehnen. Auf meiner schwarzen Linie ziehe ich mich weiter durch den Ort, den ich teile. Vom Heelweg in den Anholtseweg, dann in Richtung Ortsausgang zum ehemaligen Grenzübergang Brüggenhütte. An der Kreuzung, wo die L101 nach Bochholt führt, sehe ich einen Schlagbaum auf dem Grünstück. Er ist offen. Daneben steht ein Skelett aus Eisenstäben - die Rekonstruktion eines Wachhauses. Stramm wie ein Soldat reckt sich das schwarz-rot-goldene Schild „Bundesrepublik Deutschland“ in die Höhe. Auf der Bank neben der flatternden Europafahne sitzt ein weißhaariger Mann mit Hund; vor ihm fahren die Autos schnell und schrankenlos in beide Richtungen.

Der Niederländer Hans Roomer ist auch heute wieder aus Dinxperlo hierher gekommen „um mich zu erinnern“, sagt der 79-Jährige. Daran, wie er hier mit dem deutschen Kollegen vom Zoll zehn Jahre lang in dem Wachhaus an der deutsch-niederländischen Grenze saß. Wie sie in der Freizeit Fußball und Schach spielten, zusammen Schnaps tranken und Schmuggler schnappten. Einmal überführten sie eine Frau, die Butter in ihrem Rock eingenäht über die Grenze schmuggeln will: „Wir haben sie dann an den Ofen gesetzt.“ Er spricht deutsch mit niederländischem Akzent. „Die Butter lief der Frau unter dem Rock an den Beinen runter - das war gemein.“ Er lächelt.

Ich verlasse den Zollbeamten und die Erinnerungen, bewege mich Haken schlagend auf Nijmegen zu. Eine Zeit lang leiste ich dem Rhein Gesellschaft, der auf seinem Weg zur Nordsee die Niederlande passiert. Dann überquere ich die A40 zwischen Duisburg und Venlo, den Flusslauf der Maas rechts von mir imitierend. Auf der Höhe von Aachen komme ich zum Dreiländereck: Niederlande, Belgien und Deutschland. Schrankenlos erreiche ich Belgien, winde mich über hügeliges Gelände und begrüße das Land an meiner Seite. Wie immer überlege ich, ob „Heij“, „Salut“, oder „Hallo“ richtig ist. Die Grenze in diesem Land ist eine Trennung durch Sprache und einem seit dem 19. Jahrhundert währenden Konflikt: Niederländisch sprechende Flamen im Norden und französisch sprechende Belgier, die Wallonen, streiten bis heute um wirtschaftliche Zugehörigkeiten und Sprachgrenzen. In Ostbelgien, zwischen der Wallonie und Deutschland, leben zudem 76.000 deutschsprachige Belgier mit einer eigenen Regierung. Diese „Deutschsprachige Gemeinschaft“ schmiegt sich vom Länderdreieck bis hinunter nach Luxemburg an meine schwarze Linie. Dort, nur acht Kilometer von Aachen entfernt, bohrt sich ein Kuriosum mit seiner Spitze in die drei Länder: Neutral-Moresnet.

Ein staatenloses, neutrales Gebiet auf einem Streifen von 3,44 Quadratkilometer. Über einhundert Jahre lang war das so. Ich kenne noch die Streitigkeiten von 1816, als Preußen und die Niederlande sich nicht einigen können, wo sie die Grenze ziehen sollen. Der Auslöser ist eine profitable Zinkgrube in diesem Gebiet: Jeder will vom Kuchen etwas abhaben, keiner gibt nach. Zum Schluss bleibt ein Tortenstück Land übrig, wird als neutral erklärt und von beiden verwaltet. Von 1816 bis 1919 werden hier kaum Steuern gezahlt und, weil man sich nicht einigen kann, bleiben die veralteten napoleonischen Gesetze unverändert in Kraft. In dieser Zeit gibt es weder Schul- oder Wehrpflicht noch Gerichte. Das macht dieses Gebiet nicht nur zu einem idealen Versteck für Verbrecher, auch Frauen aus Deutschland flüchten hierher, um ihr uneheliches Kind in Anonymität zu gebären: Wenn es in Moresnet auf die Welt kommt, hat es die Staatsangehörigkeit „Neutraler“ im Pass stehen.

Das ehemalige Neutral-Gebiet gehört seit dem Ersten Weltkrieg zu Belgien, heißt heute Kelmis und ist ein belebter Ort mit knapp 6000 Einwohnern. Ich bemerke, dass sich französische und deutsche Sprache an den Läden und Straßencafés abwechseln, wie auch in den Wortfetzen der vorbeieilenden Menschen. Während ich nach Resten des alten Neutral-Moresnet suche, finde ich 15 Metallrahmen über die ganze Stadt verteilt. Sie dokumentieren mit alten Fotos das einstige Neutral-Gebiet. Ein Blick durch den Rahmen und die imposante Direktionsvilla der Zinkfirma „Vieille Montagne“ entpuppt sich in der heutigen Perspektive als das „Park Hotel Kelmis“.

Die Hotelmanagerin Caroline Losever steht hinter dem Tresen der Rezeption: „Ich bin stolz, Belgierin zu sein“, sagt die 26-Jährige. „Ich wollte nie weg von hier, obwohl ich in Aachen studiert habe. Ich liebe mein Dorf und das Land.“ Ihr Akzent klingt rheinländisch, sie ist wie so viele hier mit französischer und deutscher Sprache aufgewachsen. Die Jungen profitierten von den zwei Kulturen, meint sie, auch weil es kein Thema sei, schnell nach Deutschland zu kommen. Sie studieren in Bonn oder Lüttich und fahren in die Disko nach Aachen. Wie viele hier hat auch Caroline Losever Freunde in Deutschland. Von ihrem Arbeitsplatz aus blickt sie auf einen großen Park: An dieser Stelle befand sich früher die Zinkgrube.

Etwa 300 Meter weiter treffe ich auf die Hauptverkehrsader von Kelmis, die Lütticher Straße. Damals habe ich hier das neutrale Gebiet von Preußisch-Moresnet auf der deutschen Seite getrennt. Und dort, mit der Hausnummer 242, sehe ich das Café „Select“. Von außen ist nicht zu erkennen, dass sich hier bis heute etwa vierzig Anhänger des „Esperanto“ treffen. Laut der immer noch aktiven Esperanto-Bewegung soll diese künstliche Sprache aufgrund ihrer einfachen Grammatik und Aussprache leicht erlernbar sein und damit Völker verbinden können. "Tie ĉi oni parolas Esperanton" (Hier spricht man Esperanto), steht in Neutral-Moresnet an den Restaurants. Der Berührungspunkt von drei Sprachgebieten erscheint ideal, um hier eine Welthauptstadt des Esperanto zu gründen. Die Einwohner nehmen damals viermal pro Woche am Sprachunterricht teil. Doch es kommt nie zu „Amikejo“, wörtlich dem „Ort der Freundschaft“: Im Ersten Weltkrieg werden die Karten neu gemischt, Neutral-Moresnet fällt an Belgien, und die Idee scheitert. Als Amtssprache kann sich das Esperanto an keinem Ort durchsetzen, die Sprache wird aber wie in Kelmis heute noch in 100 Staaten gepflegt.

Silvie Fabeck kennt die Hymne der Esperanto-Anhänger: Der „Amikejo-Marsch“ wird einmal im Jahr beim Konzert des Salonorchesters gespielt. Fabeck, eine Frau in den Vierzigern, sitzt in der Gemeindeverwaltung von Kelmis, bis ihr eigentlicher Arbeitsplatz, das neue Museum zur Geschichte von Moresnet, renoviert ist. In dem kleinen Büro ist kaum Platz. Hinter ihr stehen mit „Silvie“ beschriftete Kartons. Die Mini-Grubenlampe auf dem Schreibtisch erinnert sie an den Großvater und Urgroßvater. Sie waren Dachdecker, haben in Neutral-Moresnet Zinkdächer gemacht, auch die von Paris. „Das was von Moresnet geblieben ist, ist die Vielsprachigkeit“, sagt Silvie mit französischem Akzent. Hier, in der Deutschsprachigen Gemeinschaft, lernen die Kleinen schon im Kindergarten Deutsch, in der Schule kommen Französisch, Englisch und Niederländisch dazu - mit achtzehn sind sie viersprachig plus das regionale Plattdeutsch. Ein Kind auf der Straße angesprochen wird in der entsprechenden Sprache antworten ohne nachzudenken. „Und ich glaub’, das ist auch unsere große Chance, dass die Leute gar nicht denken, welche Sprache spreche ich? Die Leute vom Dorf sprechen immer die Sprache des Anderen. Sie sind es so gewohnt. Man dreht sich um und ändert die Sprache und es geht weiter. Das ist das Schönste hier, wir fragen nie: Welche Nationalität bist du?“, sagt die Belgierin.

Weiter, auf dem Weg zur luxemburgischen Grenze, passiere ich die belgische Schwester der deutschen Eifel, das „Hohe Venn“, dann biege ich ab. Das Theater der Deutschsprachigen Gemeinschaft liegt in St. Vith, im Süden Ostbelgiens.

Kurt Pothen ist künstlerischer Leiter des „Agora“, welches seine Stücke in deutscher und französischer Sprache aufführt. In T-Shirt und Jeans sieht er weniger offiziell aus als auf der Internetseite des freien Tournéetheaters. Über dreißig Jahre wirkt er schon bei „Agora“ mit. Er ist hier geboren, keine 20 Kilometer weg von St. Vith. Sein Vater war Bauer, „eine klassische ostbelgische Familie“ sind sie damals. „Bis die Grenzen geöffnet wurden und auch danach, waren es wirklich Grenzen“, meint er. Drei Kilometer vom nächsten deutschen Ort entfernt hat er gewohnt und „da war null Kontakt“. Er dreht sich eine Zigarette, raucht, ein kurzes Luftholen auf der Bank in der Sonne, bevor der Trubel für ihn losgeht. Hinter ihm im „Kulturzentrum Triangel“ werden Vorhänge aufgehängt und letzte Einstellungen geprobt: Heute Abend beginnen die Theatertage des „Agora“ mit dem Motto „In welcher Welt möchte ich leben?“ Pothen lebt inzwischen mit seiner Familie in Köln, doch er denkt nicht, dass Deutschland näher gerückt ist: „Ich glaube nicht, dass es sich heute wesentlich verändert hat, die Orientierung ist immer noch nach Osten, nach Belgien“.

Hier erfahre ich eine Grenze, die Länder teilend, nicht die Menschen – wenn auch die Vergangenheit Barrieren baut. Weiter folge ich meinen Windungen, dann nimmt mich der Fluss Our auf bis zu dem blauen Schild mit gelben Sternenkranz: „Luxembourg“. Ich werde weiter suchen, entlang meiner schwarzen Linie um Deutschland.

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Kommentare: 3
  • #1

    Renate (Donnerstag, 11 Januar 2018 00:34)

    Großartig, da bekommt man richtig Lust, der verrückten schwarzen Linie zu folgen und all die netten Leute auch zu treffen! Das ist wirklich mal eine andere Sicht auf die Grenze.

  • #2

    Maike (Mittwoch, 14 Februar 2018 17:10)

    Ja, da bekommt man Lust sich treiben zu lassen. Mehr oder mal weniger ohne Ziel. Dort wo es schön ist: bleiben.. Das steckt an!! Das gilt ja auch für all die vielen anderen interessanten Eindrücke auf Deinen Reisen.


  • #3

    Jeanne (Donnerstag, 15 Februar 2018 09:57)

    Schön, dass Ihr so an meinen Reisen teilnehmt und Euch anstecken lasst!