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Kurze Geschichten über Gefundenes


Die Geschichte vom verlorenen Schuh

Die neuen rosa Schuhe glitzern in der Sonne. Aisha liebt die Farbe Rosa. Als sie zusammen mit der Oma bei H&M ist, entdeckt sie die Ballerinas - die will ich haben! Oma kauft sie ihr. Jeden Tag hat sie nun die rosa Schuhe an. Auch als es regnet. Ständig muss sie zu ihren Füßen hinunter schauen. Sie fühlt sich mit ihnen wie eine Prinzessin, wie das Aschenbrödel aus ihrem Lieblingsmärchen. Am schönsten findet Aisha die Stelle, als der Prinz den Schuh auf der Treppe findet und ihn Aschenbrödel anzieht. Denn danach wird alles gut.

 

Aisha ist gerade mit Mama unterwegs. Sie ist lieber ganz still, denn heute morgen haben die Eltern gestritten. Als danach die Haustür ins Schloss fällt, geht Aisha ins Badezimmer. Mama sitzt in der Ecke und blutet aus der Nase. Sie weint. Heute sagt sie nicht, dass es nicht so schlimm ist, sondern, dass Aisha jetzt ganz schnell ihre Sachen in den kleinen rosa Koffer packen muss. Beeil Dich! 

Aisha zieht die rosa Glitzerschuhe an, packt Rüssel ein, den rosa Elefanten und ihr Lieblingskleid, das mit den rosa Tupfen. Mama hat die Reisetasche schon in der Hand. Ganz schnell verlassen sie die Wohnung, hasten über die vielen Treppen hinunter ins Freie. Mamas Hand zieht sie unerbittlich weiter. Aisha kann nicht so schnell, außerdem muss sie ganz schrecklich. Sie stolpert, fällt auf die Knie. Dabei verliert sie einen Schuh. Sie weint. Ich muss mal, sagt sie unter Tränen. Auch das noch! Mamas Augen haben etwas Gehetztes. Sie hebt Aisha hoch und schmeißt danach das Tempo ins Grün. Schnell, weiter! Mama greift ihre Hand und zieht sie hinter sich her. Mein Schuh, mein Schuh, ruft Aisha verzweifelt. Wir müssen auf die Bahn, Aisha, verschwinden, ganz schnell. Er darf uns nicht einholen, darf uns niemals finden, sonst... Ich kauf Dir Neue.

 

Aisha weint noch als sie in der Bahn sitzen. Dann ist sie plötzlich ganz ruhig. Sie denkt an Aschenbrödel und an den Prinz, der ihren Schuh findet. Denn dann wird alles gut.


Das zauberlose Einhorn

Die Mama hat gesagt, mein Einhorn hat Zauberkräfte. Also habe ich jeden Morgen nach dem Aufwachen zu dem Einhorn gesagt: „Liebes, liebes Einhorn, heute wünsche ich mir ganz viel Schokolade!“ Das hat leider nur einmal geklappt. Da habe ich mir gedacht, so ein Einhorn kann ja nicht jeden Tag magisch sein und zaubern. Vielleicht hatte es auch einfach keine Lust, hab’ ich ja auch manchmal nicht. Zum Beispiel abends ins Bett zu gehen oder Spinat zu essen. Also habe ich mir gewünscht, dass der Papa früher von der Arbeit kommt und mir vor dem Zubettgehen noch eine Geschichte vorliest. Danach streichelt er mir immer über den Kopf und gibt mir einen Kuss auf die Nase. Das ist schön. Aber auch da hat das Einhorn nicht gezaubert, der Papa kam überhaupt nicht, die ganze Woche nicht. Ich hab dann etwas Böses getan und hab dem Einhorn gesagt, es soll meinen kleinen Bruder wegzaubern. Der zieht mich nämlich immer an den Haaren und hat mir schon dreimal das Einhorn geklaut. Aber auch der war am nächsten Morgen immer noch da. Das finde ich total blöd, dass das Einhorn nicht zaubern will. Und so schön ist es ja auch nicht. Ich bin jetzt böse mit dem Einhorn und will es nicht mehr haben. Das Einhorn soll wieder in den Wald zurück. Wo es hingehört.


Das Paket des Herrn Gargowitsch

Herr Gargowitsch ist nicht zuhause. Der Paketbote stellt das Paket in den Hauseingang. Drei Tage steht es dort. Ein Bewohner nimmt es mit, hoch in den zweiten Stock, stellt es vor die Tür des Herrn Gargowitsch. 

 

Das Haus hat Herrn Gargowitsch schon lange nicht mehr gesehen. Schon früh um sechs Uhr drehe sich sonst geräuschvoll der Schlüssel im Schloss, würden die Bewohner des zweiten Stocks sagen, wenn man sie fragte. Doch sie werden nicht gefragt. Noch nicht. Niemand habe je gesehen wie der Mann mit den weißen langen Haaren das Haus verlasse, würden sie berichten. Sonst hätten sie bemerkt, dass der Herr Gargowitsch zwei große, gefüllte Plastiktüten in der Hand trage und in gebückter Haltung über die Straße gehe. Langsam laufe er, ganz langsam, hätten sie gesagt und sich vielleicht darüber unterhalten, was er mit dem Inhalt dieser Tüten mache. Was wohl darin sei. Wohin er denn gehe. Aber sie haben nicht darüber gesprochen. Nicht über ihn, noch über sonst irgendeinen Bewohner des Hauses. Denn sie reden nicht miteinander.

 

Manch’ einer sah Herrn Gargowitsch vielleicht dann, wenn er zur Mittagszeit wieder vor dem Fahrstuhl stand, hörte wie sich dann im zweiten Stock der Schlüssel im Schloss drehte.

 

Niemand kann sagen, wo Herr Gargowitsch jetzt ist. Nur dass seit langer Zeit ein großes Paket vor seiner Tür steht, das sehen die Bewohner des Hauses.


Einsteins Glück

Ich hinterlasse Nachrichten, male auf Steine, schreibe Botschaften auf Papier und verteile sie in der Stadt. Ich bin ein Getriebener, muss der Welt mitteilen, was ich zu sagen habe. Manchmal wird es so groß in mir, bis es mich ganz ausfüllt und ich zu platzen drohe. Die unendlich vielen Gedanken springen in meinem Kopf hin und her, sprudeln über wie die Milch im Kochtopf. Dann schreibe ich sie auf Luftballons, bis dort kein Platz mehr ist und lasse sie steigen. Erst dann wird mein Kopf wieder frei von der Fülle. 

 

Ich finde die Gedanken anderer, mache sie zu meinen, lasse sie in mir wirbeln bis der Strudel sich auf einen Punkt konzentriert. Dann weiß ich, was richtig ist und bringe es in die Welt. Nachts, wenn die Fenster dunkel sind gehe ich durch die Straßen. In meiner Hand halte ich die Schaukelpferde und Feuerwehrautos meines Gedankenkarussells. Wenn ich sie fallen lasse, fühle ich mich wie ein Magier, der etwas aus dem Ärmel zaubert. Ich stelle mir vor, wie sie gefunden werden. Jemand bleibt stehen, bückt sich etwas hinunter, um besser lesen zu können und ich sehe wie sich auch sein Gedankenkarussell in Gang setzt. 

 

Manchmal lege ich mich auf die Lauer, warte Stunde um Stunde bis etwas passiert. Dann kommt ein alter Mann, der den Kopf schüttelt und weiter geht. Ein kleines Mädchen steckt meine Nachricht ein. In meiner Fantasie zeigt sie den Zettel zu Hause ihrer Mutter. Dann springt der Gedanke von einem zum anderen, setzt sich für einen kurzen Moment auf die Schulter, um dann weiter zu fliegen.


Der Affe Sonderbar

Mist. Das ist jetzt mal echt blöd gelaufen. Jetzt lieg ich hier und komm nich’ mehr weg. Da macht sich auch keiner Gedanken, wie man als Stofftier so ne Situation wieder unter Kontrolle kriegt. Weggeworfen. Ausgesetzt. Tschüss. Auf Nimmerwiedersehen. Ich denk noch, PASS AUF! Du kuckst in den Himmel, da fliegt grade so’n blöder Vogel über Deinen Kopf weg und Du bist abgelenkt. Was passiert natürlich: Ich flieg’ aus der Karre, nur weil DU fasziniert die Hand nach oben reißt und auf den doofen Vogel zeigst. Nicht mal bemerkt hat das IRGENDJEMAND. Hey Leute, HAALLOO – ICH BIN WEEG!!! Alle sind wie wild am Quatschen, Frühlingsgefühle nennt man das wohl. Aber nur weil die Krokusse sprießen heißt das ja noch lange nicht, dass man komplett die Kontrolle über seine Körperteile verlieren muss, über seine Hand zum Beispiel. Klar, ist ja auch nur so’n blöder Affe. Ja, ja. Wenn ihr wüsstet. Ich bin nicht bloß so’n graues, abgenutztes Äffchen. Ich bin der Affe Sonderbar. Ja, da staunst Du, was? Aber das ist nicht nur so’n Name, da ist auch was dahinter. Ich kann, kann Dinge, da wundern sich die Leute, jawohl! Ich kann nämlich genau der Freund sein, den jeder braucht, genau der Richtige eben. Der schweigend zuhört, keine doofen Rückfragen stellt, die eh’ keinen interessieren. Der im richtigen Moment da ist, wenn sonst wieder mal keiner da ist. Der versteht ohne über irgendwas Bescheid zu wissen und tröstet ohne nach dem Grund zu fragen. Nenn’ es magisch, nenn’ es sonderbar, nenn’ es wie Du willst, aber so ist es eben mit mir. Ich bin halt ’n echt be-sonderbarer Affe und so was WIRFT MAN VERDAMMT NOCHMAL NICHT AUS DER KARRE!!!


Die Fliesenfrage

„Hast Du sie?“

„Wen?“

„Na, die Fliesen!“

„Welche Fliesen?“

„Na, die vom Baumarkt.“

„Welche Fliesen vom Baumarkt?“

„Du wolltest doch Fliesen besorgen, 

 die für den Garten.“

„Ich?“

„Ja Du!“

„Ach so. Ja, die…“

„Und - hast Du sie?“

„Ja klar. Bin vorhin mit dem Fahrrad hingefahren.“

„Zum Baumarkt? Mit dem Fahrrad?“

„Ja. Warum nicht?“

„Na, wegen des Transports…?“

„Wieso? Das ging gut.“

„Und wie?“

„Na, auf dem Gepäckträger.“

„Aha.“

 

- - - 

 

„Und wo sind jetzt die Fliesen?“


Der Unsichtbare

Wie jeden Tag steht er wieder an der Häuserwand und beobachtet das Treiben. Er genießt es, nicht gesehen zu werden. Doch heute ist etwas anders als sonst. Gestern war der Tag der Vergeltung.

 

Die Nacht war warm und schwarz, der Mond nicht zu sehen. Nur die Straßenlaternen warfen ihre weißen Lichtkegel auf den Asphalt. Lautlos bewegte er sich durch die nächtliche Stille, sah in die erleuchteten Fenster mit den Schattenrissen der Menschen, die sich in ihrem Zuhause sicher fühlten. Jetzt war seine Zeit gekommen, die Zeit der Rache. Er war am Ziel. Mühelos drang er durch die geöffnete Balkontür in das Haus ein. Der alte Mann saß im Sessel, die Lesebrille auf der Nase und das Buch in der Hand. Plötzlich hob der Mann den Kopf und blickte ihm direkt ins Gesicht. Und doch schien er durch in hindurch zu schauen, denn er senkte den Blick wieder und las weiter. 

 

Er genoss diesen Augenblick, die Macht, die er hatte und die Möglichkeiten. Geräuschlos wanderte er im Haus umher, sah die Bilder sorgsam gerahmt auf dem Kaminsims stehen. Da war auch ein Bild welches ihn zusammen mit dem alten Mann zeigte, die Arme um die Schultern gelegt. Eine Erinnerung an Tage, als sie noch Freunde waren. Als alles noch normal und die Welt noch in Ordnung war. Seitdem war viel geschehen, auch etwas das er nicht vergessen konnte. Für Verrat gab es keine Vergebung, nicht für ihn. Es gab nur eine Lösung, um sich von den quälenden Gedanken für immer zu befreien. Er stellte sich hinter den Sessel und straffte mit beiden Händen den schwarzen Schal. 


Wenn Zigaretten wetten

„Habt Ihr das grade gehört? Also Jungs, mal ehrlich, wie oft hat er das schon gesagt - das ist jetzt aber die letzte Schachtel - fünfzigmal?“

 

 „Nee, zweiunddreißigmal!“ 

 

„Hey, Rechtsaußen, Du musst auch immer alles besser wissen, oder? Wer hat Dich denn bitte gefragt?“ 

 

„Wenn’s doch aber so ist!“ 

 

„Schnauze, darum gehts doch gar nicht. Wer wettet mit, dass wir die Letzten sind?“

 

„Oh nee, nicht schon wieder. Ich habe keine Lust nochmal rauszufliegen.“ 

 

„Na immerhin hat er Dich wieder eingesammelt! Jetzt sei kein Spielverderber Hintenlinks, diesmal kann es echt sein - er hat ne neue Freundin und die kann unseren Qualm nicht ausstehen. 

Wer mit JA stimmt, reckt sich in die Höhe. Die Verlierer müssen in die erste Reihe“

 

„Ich mach nicht mit!“

 

 „Soso, die Mitte zickt mal wieder rum, ist ja klar, bloß nicht einmischen, immer schön raushalten, was? Wenn wir die letzte Schachtel sind, fliegst Du eh mit uns in den Dreck, da hilft Dir Deine Enthaltung jetzt auch nicht“

 

„Also gut. Dann sag ich JA.“

 

„Ich sehe fünf zu vier Stimmen für JA. Dann lassen wir uns mal überra…..“


Das Märchen vom Püppchen aus Stein

 

Es begab sich einst, zu einer Zeit als eine große Hungersnot herrschte, dass eine Frau mit ihrer kleinen Tochter in den Wäldern unterwegs war, um Beeren und Pilze zu sammeln. Wie sie am Waldesrand entlang gingen, entdeckte das Mädchen ein kleines Püppchen, das auf einem Fels lag. Kopf und Körper des Püppchens waren aus Stein, vier Hölzer bildeten Arme und Beine. Die Haare waren aus drei Walnusskernen gelegt und man hatte ihm ein lachendes Gesicht gemalt. Das kleine Mädchen betrachtete lange das Püppchen, dann fragte es die Mutter, warum das Puppenmädchen dort läge. „Da hat bestimmt ein Kind gelogen und ist zu Stein geworden“, sagte die Mutter mit einem Lächeln im Gesicht. Das kleine Mädchen bekam ganz große Augen und erschrak: „Werden denn alle Kinder zu Stein, die gelogen haben?“ fragte es die Mutter. „Nur, wenn sie diese Lüge für sich behalten und es nicht wieder gut machen“, sagte diese ernst. Da wurde das kleine Mädchen plötzlich ganz still. Sie erinnerte sich daran, wie ein Junge sie am Morgen gefragt hatte, ob sie noch etwas zu essen hatte. Sie hatte „Nein“ gesagt, obwohl in ihrer Tasche ein halber Laib Brot war, den sie gerade geschenkt bekommen hatte. Sie erzählte der Mutter von ihrer Lüge und der Angst nun zu Stein zu werden. Die Mutter beruhigte sie und nahm sie bei der Hand. Zusammen gingen sie zu dem Jungen und schenkten ihm einen Korb voll gesammelter Beeren.


Das verliebte Fahrrad

 

Hey Schöner - ja Du! Schau mich doch einmal an, sehe ich nicht entzückend aus? Ok, ein wenig mitgenommen vielleicht, eher so bad-hair-day-mäßig. Aber ich habe mir alle Mühe gegeben, mich in Szene zu setzen, damit Du mich bemerkst. Siehst Du den Apfel, den ich mir auf den Popo geklemmt habe? Der ist für Dich mein Schöner. Wochenlang beobachte ich Dich schon, Deine braunen Locken, Dein forscher Gang, Dein entschlossener Blick - Grrrr, ich könnte Dich anknabbern, vernaschen und was weiß ich nicht alles… Aber Du, Du quälst mich, eilst täglich an mir vorbei und würdigst mich keines Blickes - ach es ist zum Verzweifeln mit Dir! Was soll ich noch alles tun, damit Du mich endlich mit zu Dir nimmst? 

Der unsichtbare Feind

Sie hat sich verändert. Sie ist stiller geworden. Von den Freunden kommen kurze Textnachrichten: „Ich denk an Dich“ und „Wie geht es Dir“? Inzwischen hasst sie diese Frage. Es ist so einfach nicht anzurufen, denkt sie. Man macht es sich leicht, riskiert nicht das Falsche zu sagen. Doch manchmal könnte sie eine Stimme brauchen, ein Lachen, etwas, das sie ablenkt. Damit ihre Gedanken nicht ständig um die Krankheit kreisen, wie auch die Fragen, welche weiter unbeantwortet bleiben.

 

Ihr ist bewusst, dass der Tod näher gekommen ist. Er ist kein abstraktes Gebilde mehr, denn für sie ist er jetzt wahrscheinlicher. Davor dachte sie, dass sie und ihr Körper eins sind, glaubte ihn gut zu kennen. Sie nährte und bewegte ihn gut, gab auf ihn acht. Doch jetzt ist er ihr fremd geworden. Ihr Körper führt ein Eigenleben. In ihm wuchert etwas, das macht was es will. Und sie kann wenig dagegen tun. 

 

Sie beschließt, weiter gut für ihren Körper zu sorgen, denn es ist das Einzige, was sie tun kann. Sie will wenigstens etwas noch in der Hand haben. Sie kauft ein Paar Inliner. Bewegen, atmen, sich fühlen, dass ist es was sie jetzt braucht. Als sie die Rollschuhe in der Hand nach Hause trägt, löst sich ein Etikett von der Verpackung. Sie bemerkt es nicht, sonst hätte sie den rosa Zettel sicher aufgehoben. Dann hätte sie gelesen, dass sie mit dem Kauf dieser Fitness Skates die Breast Cancer Research Foundation unterstützt. Das hätte ihr gefallen.


Die Perlenkette

Weich fühlen sich seine Finger an. Wie sie mich anfassen, genau wissend was zu tun ist. Neben mir liegen andere, ihre Kälte erfasst mich, lässt auch mich kalt werden und starr. Bewegungslos verharre ich in der Reihe, ohne zu wissen, was als Nächstes geschehen wird. 

 

Da gibt es einen Ruck: Schwebend geht es für alle nach oben, nur um bald darauf ganz weich zu landen. Dann wird es dunkel. Die Zeit scheint endlos, vergeht ohne Tag und Nacht. Nichts geschieht. 

 

Plötzlich, ein gleißendes Licht und schon Sekunden später werde ich vorsichtig berührt. Finger gleiten über mich hinweg. Die Haut am Nacken ist warm und weich. An diesem Ort könnte ich ewig sein. Eine ganze Weile trägt mich dieser Hals.

 

Ganz unvermutet kommt der tiefe Fall, immer weiter und weiter geht es hinab. Die Landung ist hart. Um mich herum ist Gras, unter mir Erde. Es ist nass und kalt. Ameisen krabbeln über mich hinweg – ist es so, das Ende? Doch noch einmal hebt man mich auf und ich fühle  kühlen, harten Stein.


Draußen

Die Wanderkarte „Stuttgart und Umgebung“ liegt ganz hinten im Wohnzimmerschrank. Ich werde klein anfangen, denkt er. Einmal muss es ja sein, man kann die Welt nicht für immer aussperren. Seit fünfzehn Jahren wohnt er nun schon allein in der großen Wohnung. Nach ihrem Tod begann er sich mehr und mehr zurück zu ziehen. Lies das Telefon klingeln und die Briefe unbeantwortet. 

 

Er weiß nicht, wann es angefangen hat. Irgendwann war da die Panik, die Angst vor dem Ungewissen im Draußen. Nur bei Nacht traut er sich auf die Straße, bringt den Müll raus und versucht die Tonne leise wieder zu schließen. Schon lange lässt er sich das Essen liefern, der Bofrost-Mann bleibt sein einziger, menschlicher Kontakt. Das Fenster zur Straße öffnet er nicht, aber hinter dem Vorhang beobachtet er das Geschehen in der Siedlung. Oft stundenlang. 

 

Eines Tages sieht er vor dem Haus gegenüber den schwarzen Kastenwagen vom Bestattungs-unternehmen stehen. Da passiert etwas in ihm. Am nächsten Morgen öffnet er vorsichtig die Haustür. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht. So hell ist es da draußen, denkt er. Auf dem Rücken trägt er den alten Wanderrucksack, den hat er gestern aus dem Keller geholt. Dann fängt er an zu laufen. Durch die Siedlung, über die Brücke in den Wald. Er schaut nicht nach rechts und links, er schaut nicht zurück. Sein Schritt ist schnell und entschlossen. Irgendwann, als ihm schon lange nichts mehr bekannt vorkommt, wirft er einen Blick auf die Karte. Da fasst er erneut einen Entschluss und lässt die Karte fallen. Dann geht er weiter, immer weiter. Ins Ungewisse.


Im Spiel

Das Ass im Ärmel wurde unruhig. Gleich würde etwas passieren, da war es sich ganz sicher. Der Kreuz-Bube dagegen gähnte und begann sich auf dem Stapel zu langweilen. Herz-Acht hatte sich verliebt und versuchte verzweifelt zu Herz-Zehn zu kommen, wusste aber noch nicht wie. Noch immer fand sich die Pik-Dame unendlich viel schöner als ihre Rivalinnen Herz, Kreuz und Karo. Die Zwei hatte wieder einmal Depressionen, aber das war unter den Zweien nichts Ungewöhnliches, sie alle wussten, dass sie am wenigsten wert waren. Nur der Herz-König war bestens gelaunt und genoss seine jetzige Position sichtlich. „Herz ist Trumpf“, stellte er voll Genugtuung fest: Die anderen Könige lagen in der Reihe unter ihm, so war die Rangfolge zumindest für heute geklärt. Nur die Asse ärgerten ihn so langsam wirklich, ständig wurden sie ihm vor die Nase gesetzt. Immer noch waren sie unglaublich eingebildet und ließen ihn nur zu gern spüren, dass sie am höchsten zählten. Und dabei hatten sie nicht einmal ein Bild auf der Karte, dass musste man sich mal vorstellen!  

 

Urplötzlich änderte sich alles: Sie wurden vom Tisch gefegt, fallen gelassen. Die Herz-Acht sah gerade noch wie die Herz-Zehn lange durch die Luft segelte und dann weit weg auf dem Waldboden landete. Unsanft stürzte der Herz-König in die Brennnesseln und empörte sich lautstark. Doch Rettung war nicht in Sicht, denn die Schritte entfernten sich schnell und waren bald nicht mehr zu hören. Unter den Blättern waren sie nun alle gleich…im Spiel.


Elenas Pass

Wut. Verzweiflung. Dass sie ihn verlassen wird, damit kann er leben. Aber sie hat kein Recht, ihm das letzte Wertvolle zu nehmen, was er jetzt noch hat. Dieses Leben, das dann kommt, ist kein Leben mehr. Die Leere, die da sein wird, macht ihm Angst.

 

Angst. Enttäuschung. Vor ihren Augen reißt er ihre Identität in Stücke. Sie glaubt nicht was sie sieht. Ein Schritt nach vorn und sie rettet ihr Inneres: Elena Santori. 24.3.1980. Roma. Eine Frau, verheiratet. Einst glücklich, jetzt auf der Flucht.

 

Vielleicht ist er geflohen, weil der fade Geschmack des Alltags unerträglich wurde. Da war immer wieder diese neue Haut, die sich an ihn legte, unbekannt und aufregend. Die ihn als Mann sah, begehrte, liebte.

 

Liebe war da schon lange nicht mehr. Zu oft, zu tief waren die Verletzungen. Das ständige Misstrauen war anstrengend und tat weh. Sie wird zurück in ihre Heimat gehen, hofft, dass damit alles besser wird, für sie und die Kinder.


Heimat als Haltung

Auf dem Sockel einer Skulptur am Rande des Schwellenäckerwegs, welcher zur U-Bahn Station Bockelstraße führt, wurde ein leeres Brillenetui gefunden. Auf der Innenseite befindet sich ein Aufkleber: Stefan Frey, Bernsteinstr.152, 70619 Stuttgart. Eine fiktive Geschichte.

 

 

Stefan Frey hat es eilig. Er ist spät dran, das Treffen beginnt in einer halben Stunde. Außer Atem hastet er zur U-Bahn, da kommt der Anruf: Freund Helmut braucht dringend seine Personalausweisnummer für die gemeinsame Flugreise nach Malta. Hektisch kramt er das Brillenetui aus der Innentasche des Jacketts. Normalerweise trägt Stefan Frey kein Jackett, aber zu den Treffen vom Schwäbischen Heimatbund immer. „Heimat als Haltung“, so heißt es bei ihnen in den Statuten. Pünktlich und zuverlässig ist man. Auch er, die Mitglieder können auf ihn, den Vorsitzenden der Stadtgruppe Stuttgart, zählen. 

 

Eine verschleierte Frau kommt ihm entgegen. Noch vor einem halben Jahr hätte er bei ihrem Anblick sofort an Schmarotzer gedacht, an Terroristen und religiöse Fanatiker. Doch seit kurzem kümmert sich seine Frau Gerda um eine syrische Flüchtlingsfamilie, hilft ihnen eine Wohnung zu finden. Sie waren einmal da, saßen bei ihnen auf der Terrasse, das Paar konnte kaum Deutsch. Bruchstücke von Krieg und Verfolgung zwischen Kaffee und Kuchen. Man ist sich fremd, doch die Kinder brechen das Eis. Das Mädchen und der Junge lachen, spielen mit dem Hund und essen jeder zwei Stück Schwarzwälderkirsch. Er bemüht sich. Versucht nett zu sein, Interesse zu zeigen, zu verstehen. Sie haben Probleme auf dem Amt, können sich nicht verständlich machen und wissen nicht an wen sie sich wenden sollen. Die jetzige Wohnung mit Fenstern so groß wie Schießscharten und Schimmel an den Wänden ist zu klein für die Familie. Und gesund schon gar nicht. Ihre Aufenthaltserlaubnis ist da, die Arbeit für den Mann zugesagt, aber jeder Deutsche wird bei der Wohnungssuche vorgezogen. 

 

Stefan Frey hat es plötzlich nicht mehr so eilig. Seine Gedanken kreisen um die syrische Familie. Man müsste etwas tun. Etwas sagen. Auch zu denen, die ihm gleich zuhören werden. Damit es nicht nur leere Worte sind, welche sie sich in die Statuten geschrieben haben.


Vergessen

Wo ist sie? Er hatte sie doch gerade eben noch im Garten in der Hand. Irgendwas hat ihn abgelenkt - was war das noch mal gewesen? Es will ihm nicht einfallen. Solche Dinge passieren ihm öfter in letzter Zeit. Vorige Woche hat er den Dackel vor dem Laden angebunden und beim Rausgehen vergessen wieder mitzunehmen. Glücklicherweise kam die Nachbarin eine Stunde später mit dem Hund an der Leine bei ihm vorbei. Vor kurzem konnte er sich stundenlang nicht mehr an den Namen seiner verstorbenen Frau erinnern - er musste dazu das Hochzeitsbild umdrehen. Manchmal sitzt er stundenlang im Sessel und starrt vor sich hin, vergisst Raum und Zeit. Nachts, wenn er nicht schlafen kann, macht er oft einen Spaziergang. Gestern ist es dann zum ersten Mal passiert: Er wusste nicht mehr wo er war. Wie immer drehte er die Runde ums Haus, doch irgendwann stand er an einer Kreuzung und hatte keine Ahnung wie er zurück kommen sollte. Alles sah so fremd aus. Er bekam Panik. Er setzte sich an die Bushaltestelle. Dort wartete er bis es hell wurde. Der Busfahrer vom ersten Bus kannte ihn und ließ ihn an seiner Straße aussteigen. Es kommt jetzt öfter vor, dass er seine Brille sucht und dann im Kühlschrank findet. Einmal hatte er seine Schuhe in den Ofen gestellt und angeschaltet. Der plötzlich komische Geruch in der Wohnung irritierte ihn, sonst wäre es unbemerkt geblieben. Inzwischen kleben mehrere gelbe Zettel in der Wohnung, wie der am Herd „Ausschalten!“ oder an der Kühlschranktür „Zumachen!“. Seine Tochter hat sie angebracht. Er weiß, dass sie sich Sorgen macht, um ihn und das Vergessen. Wenn sie bei ihm ist und er die Tränen in ihren schönen Augen sieht hofft er, dass es noch sehr lange dauern wird bis er auch ihren Namen nicht mehr weiß.


Das Haus auf dem Weg

Zuerst war da ein Traum. Unrealistisch und verrückt wie er war, wurde er nicht ernst genommen. Hinterlistig wie Träume sind, schlich er sich in die Gedanken und baute dort heimlich ein Nest. Die Zeit verstrich und fast unbemerkt wurde der Traum zu einem winzigen Wunsch. Lange gehegt und gepflegt fing das kleine Wunsch-Korn an zu wachsen, ganz langsam aber stetig. Zu dem heranwachsenden Wunsch gesellte sich bald darauf der Hoffnungsschimmer. Die Glanzlichter der Hoffnung blitzten in ihm auf, immer öfter und heller versprachen sie eine andere Zukunft, eine bessere vielleicht. Der nun erwachsene Wunsch und die kraftvolle Hoffnung vereinten sich zu einem Begehren. Dies wurde stärker und stärker, es ließ sich nicht mehr verdrängen oder stoppen. Und so entwickelte sich das Begehren immer weiter und entpuppte sich zur Handlung. Die gerade geschlüpfte Handlung erstellte Pläne, fasste Entschlüsse und setzte den Wunsch in die Tat um. Während die Tat noch dabei war zu wachsen, wurde der Traum Wirklichkeit.


Senseless Homelessness

 

Wie jeden Mittag steht er an der Kreuzung: „Monroe, walk sign is on across Monroe“. Die blecherne Ampelstimme dringt nur noch unbewusst in seine Gedanken. Von der Brücke über den Fluß kommen ihm die Autos auf der Michigan Street entgegen. Das scheinbar endlose Band der Fahrzeuge zieht auf der Monroe Avenue an ihm vorbei. In der Hand hält er das Schild aus Pappe vor den Bauch. Er friert. Letzte Nacht hat es geschneit, doch der Schnee taut, jetzt regnet es. Die feuchte Kälte in der Luft und der beißende Wind sind seine ständigen und einzigen Begleiter in dieser Stadt. 

 

Der Platz ganz oben unter der Brücke schützt etwas vor dem Wind, doch nicht vor der Kälte, die sich hier sechs lange Monate hält. Nachts hört er über sich das monotone Rauschen der Autos auf der Interstate. Es lässt ihn einschlafen, was eine Gnade ist. Dann ruhen auch die Gedanken an früher, als er noch ein Leben hatte. Und ein Haus, eine Frau, zwei Kinder. Auf dem Brückenträger liegt das, was davon noch übrig ist: Vier Strichmännchen, zwei große und zwei kleine, kraxelig und bunt auf liniertem Papier gemalt. Von einem Foto strahlen ihn zwei schöne Augen an, die knallroten Lippen formen ein Lachen. Zu oft tränen seine Augen nicht nur vom Wind. 

 

„Michigan, walk sign is on across Michigan“ Die Ampelphasen unterbrechen in sturer Regelmäßigkeit den Strom der Autos. Die Wahrscheinlichkeit, das jemand beim Halten die Scheibe runterkurbelt und ihm einen Dollar gibt ist gering. Und doch steht er wieder hier. Heute erscheint ihm das noch sinnloser als sonst. Er sieht die Menschen in den Autos, die starren Gesichter hinter grauen Scheiben. Und er trifft eine Entscheidung.


Der Hase auf dem Sprung

 

Hey Du! Ja Du, altes Sackgesicht! Was glotzt Du so? Noch nie ’nen Hasen auf ’nem Podest gesehen? War auch ’ne verdammte Schwerstarbeit da rauf zu kommen - frag mich nicht, wie ich das gemacht habe. Muss das Adrenalin gewesen sein. Bin nämlich abgehauen. Kann das verdammte Geknuddle nicht mehr ertragen. Ständig Hasi hier, Hasi da. Hasi muss mit ins Bett, Hasi wird in den Arm eingeklemmt und Hasi wird auf den Boden geschmissen. Und was passiert dann: Dann kommt natürlich gleich der blöde Hund, haut mir seine Zähne ins Fell und sabbert mich voll - iihgitt! Nee, da hab ich jetzt echt keinen Bock mehr drauf. 

 

Soll’n die sich doch ’nen echten Hasen kaufen. Mal sehen, ob der die ganze Chose so mitmacht. Der kann sich dann auch das dauernde Ziehen an den Ohren gefallen lassen und das ständige Waschen. Alle zwei Wochen komme ich in die Trommel, werde stundenlang rumgewirbelt und muss Seife schlucken. Nee, nicht mehr mit mir. Ich bin raus. Ein Sprung, dann ist Euer Hasi weg!